Gute Löhne und sichere Arbeitsplätze dank Gesamtarbeitsverträgen - eine Analyse der leider zu wenig bekannten Wirkungen von GAV

  • Gewerkschaftsrechte
  • Flankierende Massnahmen und Personenfreizügigkeit
Blog Daniel Lampart

Dies ist die deutsche Fassung eines Textes für die Zeitung Le Temps.

Wussten Sie, dass auch Opern-Solosängerinnen, Bankangestellte und Journalisten einen Gesamtarbeitsvertrag haben? Diese Beispiele zeigen: Die Gesamtarbeitsverträge decken weit mehr Berufstätige ab als die bekanntesten Landesmantelverträge im Bau oder im Gastgewerbe. In der Schweiz kommt rund die Hälfte der Berufstätigen in den Genuss eines Gesamtarbeitsvertrags.

Wer in den Genuss eines GAVs kommt, hat viele Vorteile. Neben Mindestlöhnen, die gegen Dumping absichern, gibt es lohnrelevante Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten. Es gibt 13. Monatslöhne, mehr Ferien und kürzere Arbeitszeiten. Oder massgeschneiderte Pensionskassenlösungen und Krankentaggeld. Der Bau ging voran mit einer Frühpensionierungslösung ab 60.

Doch die GAV fallen nicht vom Himmel. Diese Erfolgsgeschichte, die heute fast selbstverständlich erscheint, musste vor über 100 Jahren erkämpft werden. Die ersten Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter riskierten für die GAV sogar ihr Leben und ihre berufliche Zukunft. Auch heute braucht es viele engagierte Mitglieder, damit GAV zustande kommen oder weitergeführt werden. Die Provokationen der Baumeister-Spitze, den Bau-GAV zu opfern und die Branche in grosse Probleme zu stürzen, führen einmal mehr deutlich vor Augen, wie viel vom Engagement der aktiven Gewerkschafts-Basis abhängt. Für diesen Beitrag zum Allgemeinwohl wird ihr Mitgliederbeitrag durch die GAV vergünstigt – über Solidaritätsbeiträge von denjenigen, die nur profitieren wollen und sich nicht engagieren. Diese Solidaritätsbeiträge verlangt sogar das Ökonomie-Lehrbuch. Denn das Engagement der aktiven Gewerkschaftsmitglieder für die GAV ist eine Art Service Public, der belohnt werden muss.

Die Wirtschaftswissenschaften stellen den GAV ein sehr gutes Zeugnis aus. Dank GAV gibt es höhere Löhne und eine fairere Verteilung. Die OECD kam in einer breit angelegten Untersuchung vor zwei Jahren sogar zum Schluss, dass die GAV zu einer tieferen Arbeitslosigkeit führen. Wer mit den GAV vertraut ist, weiss das. Denn dank den massgeschneiderten Aus- und Weiterbildungsangeboten können viele Berufstätige ihre Qualifikationen verbessern. Und das GAV-Bollwerk gegen Dumping verhindert, dass Firmen, die ihr Personal vorbildlich behandeln, nicht von den Schwarzen Schafen verdrängt werden.

Dank den GAV und den Flankierenden Massnahmen konnte auch das veraltete, bürokratische Kontingentssystem durch die fortschrittlichere Personenfreizügigkeit mit der EU abgelöst werden. Die Lohnkontrollen vor Ort und die Bussen gegen Lohndumping sind gleichzeitig wirksamer und effizienter als die früheren Stichprobenprüfungen von Arbeitsverträgen in den Amtsstuben. Dass die Kontrollen einigen nicht gefallen, ist kein Wunder. Die Kritik gewisser Arbeitgebervertreter der GAV und der Kontrollen sind auch ein Beleg dafür, dass die Kontrollen dort weh tun, wo sie müssen. Wer sich korrekt verhält, hat nicht nur nichts zu befürchten. Sondern er muss keine Angst vor unlauterer Konkurrenz haben.

Leider hat der Bund die Entwicklungen in letzter Zeit etwas verschlafen. Die Bundesgesetze zu den Gesamtarbeitsverträgen stammen grösstenteils aus den 1950er-Jahren! Einer Zeit, die mit den heutigen Entwicklungen der grenzüberschreitenden Wirtschaftstätigkeit, der Personenfreizügigkeit und der hohen Mobilität nicht mehr vergleichbar ist. Kaum jemand würde sich heute bedenkenlos mit einem Auto aus den 1950er-Jahren ohne die heutigen Sicherheitsstandards in den dichten Verkehr wagen. Die Hürden für Gesamtarbeitsverträge und ihre Allgemeinverbindlich-Erklärung sind angesichts der heutigen Herausforderungen eindeutig zu hoch.

Im den meisten anderen Ländern in Europa kommen mehr Arbeitnehmende in den Genuss eines Gesamtarbeitsvertrags als in der Schweiz, weil der Staat den Kollektivverträgen weniger Steine in den Weg legt. In Österreich sind beispielsweise fast alle Arbeitnehmenden einem Gesamtarbeitsvertrag unterstellt. In der Schweiz ist es nur die Hälfte. In Österreich ist der GAV für die Angestellten im Detailhandel und in vielen anderen Dienstleistungsbranchen eine Selbstverständlichkeit. Die Angestellten dieser Branchen in der Schweiz haben hingegen keine oder nur lückenhafte Gesamtarbeitsverträge.

Das Erfolgsmodell der GAV muss daher dringend weiterentwickelt werden. Auf Bundesebene braucht es eine Anpassung der gesetzlichen Grundlagen an das heutige Umfeld mit den internationalen Firmen und den zahlreichen Subunternehmen. Zudem braucht es GAV in den heute vertragslosen Branchen. Allen voran im Detailhandel, wo viele nach wie vor wenig verdienen und nicht einmal einen 13. Monatslohn haben. Unverständlich ist auch, warum sich gewisse Kantonalbanken weigern, dem GAV der Banken beizutreten. Oder warum der Bund von der Landwirtschaft, die Milliardensubventionen bezieht, nicht verlangt, dass sie einen GAV verhandeln muss.

Ohne engagierte Leute im Betrieb und in den Branchen gibt es keine Sozialpartnerschaft und auch keine GAV. Der Kündigungsschutz für diese Arbeitnehmervertretungen ist ungenügend und muss verbessert werden. Bundespräsident Parmelin hat eine Mediation einberufen. Die Resultate stehen immer noch aus.

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Luca Cirigliano

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Luca Cirigliano
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