Mitbestimmen in der Politik und Gehorchen am Arbeitsplatz? Eine Rede zur Mitbestimmung im Betrieb und zur halben Demokratie anlässlich des 50-Jahre-Jubiläums der PEKO ETH

  • Gewerkschaftsrechte
Blog Daniel Lampart

In der Schweiz haben die Arbeitnehmenden Mitwirkungsrechte und können Personalkommissionen bilden. Die Rolle der Personalkommissionen wird in der Regel jedoch unterschätzt. Viele Arbeitnehmende wissen nicht einmal, dass sie Anspruch auf eine Personalvertretung hätten. Dabei zeigt die Praxis, dass die aktive Mitbestimmung der Arbeitnehmenden zu besseren Arbeitsbedingungen und einer höheren Arbeitszufriedenheit führt.

Die Mitwirkung geht aber weit über die Realität im Betrieb hinaus. So gab es wichtige Vordenker des Liberalismus wie John Stuart Mill, für den die Menschen ohne die Mitwirkung am Arbeitsplatz nicht frei sind. Er ging sogar so weit, dass er Genossenschaften als Königsweg für echte Freiheitsrechte und eine möglichst produktive Wirtschaft betrachtete.

Widerspruch zwischen politischen Rechten und den Arbeitnehmenden als WeisungsempfängerInnen? Die "halbe" Demokratie

Auch heute gibt es immer noch einen eklatanten Widerspruch zwischen den politischen Freiheitsrechten und dem Arbeitnehmerstatus, wo man die Weisungen des Arbeitgebers befolgen muss. So gesehen leben wir in einer halben Demokratie.

Im Schweizer Obligationenrecht steht in Art. 321d: «Der Arbeitnehmer hat die allgemeinen Anordnungen des Arbeitgebers und die ihm erteilten besonderen Weisungen […] zu befolgen.»

Gleichzeitig gewährt die Bundesverfassung in Art. 136 umfassende politische Mitwirkungsrechte: «Die politischen Rechte in Bundessachen stehen allen Schweizerinnen und Schweizern zu, die das 18. Altersjahr zurückgelegt haben und die nicht wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche entmündigt sind».

Die Politik funktioniert demokratisch mit umfassenden Rechten und weitgehender Gleichberechtigung. Am Arbeitsplatz herrscht mit der Pflicht, Weisungen entgegen zu nehmen, das Gegenteil.

Einem früheren Arbeitskollegen an der ETH aus der ehemaligen DDR fiel das auf. Die DDR-BürgerInnen hätten sich dem Staat untergeordnet. Am Arbeitsplatz hätten sie sich hingegen viele Freiheiten herausgenommen. Die SchweizerInnen würden hingegen an der Arbeit spuren und in der Politik kein Blatt vor den Mund nehmen.

Freiheitsrechte und Arbeitnehmerstatus am Arbeitsplatz: Was sagt die politische Theorie?

Obwohl dieser Widerspruch zwischen Politik und Arbeit offensichtlich ist, haben sich nicht viele Leute vertieft Überlegungen dazu gemacht. Wo Philosophinnen und Philosophen darüber geschrieben haben, kamen sie zu folgenden Schlussfolgerungen:

  • Mehr Selbstbestimmung am Arbeitsplatz notwendig für die Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger.
  • Mehr Selbstbestimmung am Arbeitsplatz führt zu besseren Entscheiden in der Politik. Sie führt zu einer besseren Partizipation an politischen Entscheiden.
  • Und sie führt auch zu besseren wirtschaftlichen Ergebnissen. 

Allerdings kommt es sehr auf den Verständnis der Demokratie an, ob man die Mitwirkung am Arbeitsplatz bedeutend findet oder nicht. Der 1883 geborene Politökonom Joseph Schumpeter beispielsweise reduzierte die Demokratie auf eine «Führerwahl». Für ihn sind die normalen BürgerInnen nicht fähig, über Themen zu urteilen, die über ihr unmittelbares Lebensumfeld hinaus geht. Die „Wählermasse“ ist mit seinen Worten zu „keiner anderen Handlung als der Panik fähig“.

Auf der anderen Seite stehen Demokratietheorien, bei denen die Beteiligung an politischen und anderen gesellschaftlichen Entscheidungen eine wichtige Eigenschaft der Freiheit überhaupt ist. Dahinter steht der Begriff der Freiheit aus der Aufklärung, wie man ihn beispielsweise bei Immanuel Kant findet. Freiheit heisst dann auch, dass ich nur äusseren Gesetzen gehorchen muss, bei denen ich mitbestimmen kann.

Der 1806 in England geborene Philosoph und Ökonom John Stuart Mill gehört zu den wenigen liberalen Denkern, der diese Frage der Freiheit auch in Bezug auf den Arbeitsplatz bzw. den Arbeitnehmerstatus weitergedacht hat. Wobei seine Frau Harriet wohl einen wichtigen Beitrag zu seinen Erkenntnissen leistete. Ihn zu lesen, ist aber umso erfrischender. Auch in einer Zeit, wo der «Liberalismus» stark wirtschaftlich verstanden wird. Als eine Wirtschaftstheorie, welche politische Beschränkungen der Firmen und des unternehmerischen Handelns ablehnt oder zumindest kritisch betrachtet.

Mill betont immer wieder, dass Freiheit nicht nur Unabhängigkeit von äusseren Zwängen ist, sondern auch Selbstbestimmung. Diese Selbstbestimmung soll nicht nur in der Politik gelten, sondern auch in der Wirtschaft.

Aber auch Mill ist natürlich zunächst ein Kind seiner Zeit, wo ein grosser Teil der Arbeitnehmenden nur schlecht gebildet war. Die Bildung der Arbeiterklasse war ihm ein wichtiges Anliegen. Diese Bildung geschieht auch über einen stärkeren Einbezug. Je mehr man die Arbeitnehmenden an den Entscheidungen beteiligt, desto besser wird ihre Urteils- und Entscheidfähigkeit. 

„Der Arme hat aufgehört, sich am Gängelbande führen zu lassen, und will nicht länger wie ein Kind regiert und behandelt werden. Seinen eigenen Fähigkeiten muss jetzt die Sorge für sein Geschick überlassen werden. Moderne Staaten werden den Satz zu lernen haben, dass die Wohlfahrt eines Volkes auf der Gerechtigkeit und der einsichtsvollen Selbstbestimmung [...] der einzelnen Bürger zu beruhen hat.“

Damit wird der Prozess zur Selbständigkeit der ArbeitnehmerInnen in Gang gesetzt. Sie werden sich, so Mills Prognose, bald nicht mehr mit einem Anstellungsverhältnis zufriedengeben, in dem sie sich den Weisungen der Arbeitgeber unterwerfen müssen. Die einfache Lohnarbeit wird überwunden, und die ArbeitnehmerInnen werden je länger je mehr Ansprüche in Richtung Mitbestimmung in den Betrieben stellen. Mill kann sich nicht vorstellen, „dass sie stets damit zufrieden sein werden, für Lohn als letztes erreichbares Ziel zu arbeiten. Sie können gewillt sein, die Stufe des Dienens durchzumachen, um zu der Klasse der Unternehmer aufzusteigen; aber sie wollen nicht ihr ganzes Leben in jener Stufe bleiben.“

„Die Beziehungen zwischen den Arbeitgebern und Arbeitern [werden] allmählich durch eine Teilhaberschaft in einer der möglichen Formen ersetzt werden: in einigen Fällen durch eine Vereinigung der Arbeiter mit den Kapitalisten, und in anderen, und vielleicht schliesslich in allen Fällen, durch eine Vereinigung der Arbeiter untereinander.“ Gemäss Mill entstehen Genossenschaften, die produktiver sein werden als die hierarchisch organisierten Firmen. In den Genossenschaften verwirklicht sich Mills Vision einer demokratischen Gesellschaft. „Die besten Ziele des demokratischen Geistes“ werden erreicht, indem mit allen gesellschaftlichen Unterscheidungen aufgeräumt wird, die nicht durch persönliche Mühen und Verdienste ehrlich verdient sind.»

Die Prognose traf nicht ein. Weil die Realität etwas komplexer ist. Aber auch weil die Arbeitgeber kein Interesse hatten. Die Organisation der Firmen ging zunächst sogar in die Gegenrichtung. Der Arbeitnehmer wird im so genannten Taylorismus buchstäblich zum Affen gemacht.

Der Arbeitnehmer als Affe? Tiefpunkt der Mitwirkung im Taylorismus

Den meisten sagt das Wort Taylorismus etwas im Zusammenhang mit den Autofabriken von Henry Ford, in denen Autos als Massenprodukte über Fliessbandarbeit möglich kostengünstig hergestellt werden sollten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden die Produktionsschritte zunehmend standardisiert und rationalisiert. Und die Arbeitnehmenden mehr und mehr zu einem Rad im Produktionsprozess.

In seinem 1913 erschienenen Buch zeigt der Ingenieur und Namensgeber des Taylorismus - Fredrick Taylor – sein Organisationsmodell an einem konkreten Beispiel – nämlich am Beispiel des Eisenverladens:

„Einen intelligenten Gorilla könnte man so abrichten, dass er ein mindestens ebenso tüchtiger und praktischer Verlader würde als irgend ein Mensch. Und doch liegt in dem ‘richtigen’ Aufheben und Wegschaffen von Roheisen einen solche Summe von weiser Gesetzmässigkeit, eine derartige Wissenschaft, dass es auch für den fähigsten Arbeiter unmöglich ist, ohne die Hilfe eines Gebildeteren die Grundbegriffe dieser Wissenschaft zu verstehen oder auch nur nach ihnen zu arbeiten.“

Die Arbeitnehmenden werden fremdbestimmt. In Taylors Worten: «Eine erste Kraft tut, was man ihr sagt, und widerspricht nicht».

Neue Arbeitswelten und Mitwirkung?

Zumindest in den reichen Ländern des Westens wurde der Taylorismus nach und nach überwunden. Das Engagement der Gewerkschaften gegen diese unbefriedigenden Arbeitsbedingungen und die dadurch entstehenden Mitbestimmungsrechte in den Firmen trugen Früchte. Und auch die Arbeitgeber sahen ein, dass die Arbeit besser wird, wenn die Arbeitnehmenden mehr Kompetenzen erhalten. Die Firmen schaffen Projektteams, Qualitätszirkel oder wie die neuen Organisationsformen alle heissen. Allerdings handelt es sich bei diesen neueren Organisationsformen höchstens um eine Teil-Mitbestimmung. Die Projektverantwortung ist oft damit verbunden, dass die Arbeitnehmenden auch mehr Projektrisiken übernehmen müssen. Ohne dass sie jedoch die Kompetenzen haben, die Arbeitsorganisation wesentlich zu ändern oder zusätzliches Personal einzustellen. Es ist daher kein Wunder, dass der Stress am Arbeitsplatz unter diesen neuen Produktionsmodellen tendenziell zugenommen hat. Allerdings muss man aus Arbeitnehmersicht auch kritisch anmerken, dass sich zahlreiche Berufstätige auch nicht stärker engagieren wollen. In der heutigen Zeit des Individualismus wechseln viele den Arbeitsplatz, wenn es ihnen nicht mehr passt. Statt sich stärker für Veränderungen einzusetzen. Das führt auch dazu, dass die Mitbestimmung und die Personalkommissionen nicht die Wertschätzung erfahren, die ihnen eigentlich gebührt.

Erfolgsfaktoren der PEKO-Arbeit

Dabei zeigt das Beispiel der PEKO der ETH Zürich, dass eine professionelle PEKO-Arbeit zu wichtigen Verbesserungen führt. Lassen Sie mich abschliessend noch ein paar Bemerkungen zu den Erfolgsfaktoren der PEKO-Arbeit machen.

  • Eine PEKO muss repräsentativ sein: Gespräche, Personalversammlungen sowie die regelmässige Konsultation der KollegInnen ist zentral.
  • Eine PEKO muss ihre Anliegen konsequent vertreten können. Damit sie nicht unter Druck gesetzt werden kann, braucht sie einen besonderen Kündigungsschutz.
  • Die PEKO braucht eine starke Gewerkschaft im Rücken. Damit sie eskalieren kann, wenn der Arbeitgeber zu viel Druck ausübt.
  • Und die PEKO muss sich vernetzen und mit anderen PEKOs koordinieren. Damit man von den Arbeitgebern nicht gegeneinander ausgespielt werden kann.

Der Schweizerische Gewerkschaftsbund setzt sich momentan prioritär für die Verbesserung des Kündigungsschutzes von Personalvertretungen ein. Wir kennen zahlreiche Fälle von Personalvertretungen, die mit Kündigungsdrohungen vom Arbeitgeber eingeschüchtert oder über eine Kündigung sogar aus dem Betrieb geworfen wurden.

Auf unseren Druck hat Bundespräsident Parmelin eine Mediation in Auftrag gegeben, bei denen die Sozialpartner unter Mediator Franz Steinegger einen Lösungsvorschlag erarbeiten sollen. Bis jetzt liegen noch keine Ergebnisse vor … Klar ist und bleibt: Ohne wirksamen Kündigungsschutz für die Personalvertretungen gibt es auch keine echte Mitwirkung. 

Responsable à l'USS

Luca Cirigliano

Zentralsekretär

031 377 01 17

luca.cirigliano(at)sgb.ch
Luca Cirigliano
Top